the.stonebreakerJahrestag

Der kleine Erik hatte es wirklich nicht leicht gehabt.
Als er zehn Jahre alt war, verlor er seine Mutter an den Folgen eines schweren Autounfalls.
Nicht mal ein halbes Jahr später hatte sein Vater eine neue Frau kennengelernt und nicht mal ein Jahr nachdem seine Mutter verstorben war, zog Erik mit seinem Vater bei Susanne ein.
Diese hatte eine Tochter, Sabrina, ein wenig älter als Erik. Mutter und Tochter wurden kurz nach der Geburt vom Kindsvater sitzen gelassen.
So sehr sich Susanne auch bemühte Erik eine gute Ersatzmutter zu sein, ein liebevolles Familienleben wollte einfach nicht zustande kommen.
Erik fühlte sich von Tag zu Tag mieser, immer noch in Gedanken an seine Mutter, die von seinem Vater einfach durch eine fremde Frau ersetzt worden ist. Er war unglaublich wütend auf seinen Vater, aber auch auf Susanne, dass die beiden in kürzester Zeit ein normales Familienleben führen wollten.
Zudem hatte er seit dem Umzug kaum noch Kontakt zu seinen alten Freunden, da diese jetzt mehrere hundert Kilometer von ihm entfernt waren.
In seiner neuen Schule hatte er bis jetzt auch noch keinen Anschluss zu den anderen Kindern gefunden, auch wenn die Lehrer bemüht waren ihn in die Klassengemeinschaft zu integrieren.
Am schlimmsten war jedoch das Verhältnis zu seiner neuen Schwester. Als Einzelkind aufgewachsen, konnte sie es gar nicht leiden, dass ihre Mutter jetzt auch ihm ihre Aufmerksamkeit schenkte. Umso mehr Susanne sich um Erik bemühte, dass er sich wohl und geborgen fühlte, desto mehr wuchs Sabrinas Abneigung gegen ihn.
Die Sticheleien fingen klein an.
Zuerst konnte Erik seine Süßigkeiten nicht mehr finden. Diese bewahrte er immer in seiner Kommode auf, um, wann immer im danach war, ein bisschen zu naschen. Als er am nächsten Schultag in der Pause beobachtete, wie Sabrina genau diese Süßigkeiten unter ihren Freundinnen verteilte, tobte er vor Wut. Sie zur Rede zu stellen oder bei den Erwachsenen zu petzten, brachte gar nichts, da Sabrina schlichtweg alles abstritt. Natürlich konnte Erik nichts beweisen, jedoch war er sich sicher, dass Sabrina seine Süßigkeiten geklaut hatte.
Ein paar Tage später war Erik auf dem Weg zur Schule, als er merkte, dass er trotz angestrengtem Treten in die Pedale kaum noch auf seinem Fahrrad vorwärtskam. Nachdem er abgestiegen war, bemerkte er, dass seine Fahrradreifen jeweils einen schmalen Schlitz aufwiesen, sodass die ganze Luft bereits herausgetreten war. Da sein Vater und Susanne schon auf der Arbeit waren und Sabrina ihm sicher nicht helfen würde, blieb ihm nichts anderes übrig als sein Fahrrad die letzten Kilometer zur Schule zu schieben, obwohl er wusste, dass er definitiv zu spät zur ersten Stunde kommen würde und das ausgerechnet wo sie in der ersten Stunde Mathe bei der strengen Frau Schubert hatten.
Außerdem fand Erik seine Spardose komplett leer auf, als er sich sein gespartes Geld daraus nehmen wollte, um sich endlich ein heißbegehrtes neues Computerspiel zu kaufen. Er beschuldigte wieder seine Stiefschwester, was jedoch hoffnungslos war, da diese erneut alles abstritt und auch keinen Ärger bekam.
Als Erik das Computerspiel dann aber wenige Wochen später zu seinem Geburtstag bekam, war der Ärger auch erst mal wieder vergessen und er freute sich über das Geschenk von Susanne, auch wenn er bemerkte, dass Sabrina dies gar nicht passte.
Daher kam es wahrscheinlich auch, dass er das Computerspiel eines Tages nicht mehr spielen konnte, da sich das Programm nicht mehr öffnen ließ. Nach mehreren Versuchen das Spiel zu starten, öffnete Erik das Laufwerk und musste feststellen, dass die CD komplett zerkratzt war.
Ihm war klar, dass es nur Sabrina gewesen sein konnte, so eifersüchtig wie sie geguckt hatte, als Erik das Spiel geschenkt bekommen hatte. Aber auch hier glaubten weder sein Vater noch Susanne ihm: Wieso sollte die liebe Sabrina ihm so etwas antun? Da hat sie doch gar keinen Grund zu.
Einen weiteren Tiefpunkt erlitt Erik als sein geliebter Zwerghamster starb. Diesen hatte er kurz bevor sie starb von seiner Mutter geschenkt bekommen. Susanne bot ihm an in die Tierhandlung zu fahren um einen neuen Hamster zu kaufen, aber Erik lehnte ab. Er wollte kein neues Haustier, da man den Hamster seiner Mutter nicht ersetzten konnte.
Eines Tages, die Herbstferien hatten gerade angefangen, wollte Erik seinen Drachen steigen lassen. Als er diesen nicht finden konnte, hatte er natürlich sofort Sabrina im Verdacht.
In ihrem Zimmer wurde er auch fündig, musste ihr aber versprechen, dass sie mitkommen dürfe.
Die Kinder gingen also nach draußen zur alten Eisenbahnbrücke, wo der Wind besonders stark war.
Eigentlich durften sie dort nicht spielen, da es zu gefährlich war, jedoch waren Eriks Vater und Sabrinas Mutter arbeiten, sodass sie es nicht mitbekamen.
Erik ließ seinen Drachen in die Luft steigen, dieser nahm sofort Fahrt auf und drehte sich heftig im Wind. Dann wollte Sabrina auch mal, aber Erik wollte seiner Stiefschwester seinen Drachen nicht
anvertrauen. Als sie damit drohte, bei den Erwachsenen zu petzten, dass die beiden auf der alten Brücke gewesen wären, übergab er ihr den Drachen doch widerwillig.
Nachdem dieser ein paar Schleifen gedreht hatte, ließ sie die Seile plötzlich los und er segelte im tosenden Wind davon. Erik versuchte noch die Seile zu fangen, aber es war zu spät, der Drache war weg. Wütend schrie er seine Stiefschwester an, was das sollte und dass sie ihm jetzt gefälligst einen neuen Drachen besorgen könne. Diese jammerte, dass ihre Mutter ihm doch bestimmt eh sofort einen neuen Drachen kaufen würde. Erik meckerte, dass Sabrina nicht immer so eifersüchtig sein solle und stieß sie zur Seite, um sich auf den Heimweg zu machen. Sabrina jedoch schubste ihn so heftig zurück, dass er das Gleichgewicht verlor und von der Brücke hinab in den tosenden Fluss stürzte.
Sabrina beugte sich vorsichtig über den Rand der Brücke, konnte Erik jedoch nur noch einen kurzen Moment sehen, ehe die Wellen ihn verschlangen und er von der Strömung fortgerissen wurde.
Sie richtete sich auf, ihr Herz raste in ihrer Brust, sie schaute sich schnell zu allen Seiten um.
Hat sie jemand beobachtet? Konnte Erik noch gerettet werden? Sollte sie Hilfe holen? Kurzerhand entschloss sie sich dagegen. Sie würde eine Menge Ärger bekommen, dabei ist es ja ein Unfall gewesen. Erik war im Prinzip selbst schuld, denn er hatte angefangen sie zu schubsen.
Sabrina machte sich schnell auf den Heimweg, um zu Hause zu sein, wenn die Erwachsenen von der Arbeit nach Hause kommen.
Auf ihr Nachfragen erzählte sie, dass sie nicht wisse, wo Erik ist. Dass sie nur weiß, dass er seinen Drachen bei der alten Eisenbahnbrücke steigen lassen wollte und bis jetzt nicht zurückgekehrt war.
Als Erik am Abend noch nicht wieder nach Hause gekommen war, fuhren die Erwachsenen zu der Brücke und suchten die Umgebung nach ihm ab. Als sie nichts fanden, beschlossen sie Erik bei der Polizei als vermisst zu melden.
Am nächsten Tag fand man Eriks Drachen, der sich in einer Baumkrone verfangen hatte, von dem Jungen war jedoch keine Spur. Als wenige Wochen nach dem Verschwinden Eriks Schuh mehrere Kilometer flussabwärts am Ufer aufgefunden wurde, stellte die Polizei die Suche ein.
Die Hoffnung, dass der Junge wieder heil nach Hause zurückkehrte, schwand mit jedem Tag.
Drei Monate nach seinem Verschwinden, wurde Erik für tot erklärt.

Über 25 Jahre später.
Gerade als Sabrina die Kaffeemaschine ausschaltete, kam ihr Sohn in die Küche gehüpft.
„Na, Robin? Bereit für den ersten Schultag?“, fragte sie und strich ihm liebevoll durch die lockigen Haare. „Eigentlich wäre es mir lieber, wenn die Sommerferien noch etwas länger gehen würden, aber immerhin bin ich ab heute in der Vierten. Endlich gehör ich zu den Großen!“, antwortete er stolz.
Sabrina lächelte: „Dann lass uns losfahren. Nicht dass du direkt am ersten Schultag nach den Ferien zu spät kommst.“
Folglich schnappten sich die Beiden noch ihre Taschen und verließen gemeinsam das Haus.
Sabrina arbeitete halbtags als Sekretärin in einer Anwaltskanzlei nahe der Grundschule, sodass sie ihren Sohn jeden Morgen mit dem Auto dort absetzen konnte. Zurück kam er meistens mit dem Bus.
Ihr Mann Markus war als Elektriker in einem größeren Unternehmen in der Stadt angestellt und morgens schon immer früh aus dem Haus. Das war aber auch nicht weiter schlimm, denn somit war er auch früher wieder zurück, sodass die kleine Familie jeden Abend zusammen essen und von ihrem Tag berichten konnte.
Markus verdiente gutes Geld und auch Sabrina hatte mit ihrem Arbeitgeber Glück, denn trotz ihres Halbtagsjobs verdiente sie überdurchschnittlich viel. Da die beiden auch schon ihre Eltern verloren hatten, konnten sie mit deren Erbe und ihrem Ersparten ein kleines Häuschen in der Vorstadt kaufen.
Die Familie flog jedes Jahr im Sommer für zwei Wochen ans Meer und im Winter für zwei Wochen in den Skiurlaub.
Zu ihrem Hochzeitstag gingen die Eltern jedes Jahr schick essen und auch zwischendurch überraschte Markus seine Frau mit kleinen Aufmerksamkeiten, wie zum Beispiel einem Kinobesuch oder einem Strauß ihrer Lieblingsblumen. Wenn ihr Sohn am Wochenende bei einem Freund übernachtete, bereitete Sabrina gerne Markus‘ Lieblingsessen zu und die beiden verbrachten den Abend kuschelnd auf dem Sofa und schauten zusammen einen Film.
Das Familienglück wurde abgerundet durch den kleinen Kater Mirko. Diesen hatte Sabrina vor zwei Jahren ausgesetzt an einer Raststätte gefunden und ihn ins Tierheim gebracht. Da sie ihn durch die Rettungsaktion aber schon liebgewonnen hatte, entschied sie sich kurze Zeit später den rabenschwarzen Kater zu sich zu holen. Dabei stieß sie nicht nur bei ihrem Sohn auf große Begeisterung, sondern auch ihr Mann hatte sich schnell mit dem neuen Familienmitglied angefreundet.

Die seltsamen Vorkommnisse begannen an einem Montag im Spätsommer.
Die Familie hatte gerade gemeinsam zu Abend gegessen, Robin war zum Spielen in sein Zimmer gegangen und Markus räumte das Geschirr in die Spülmaschine, als Sabrina in die Küche trat. „Sag mal, weißt du wo meine Lieblingsschokolade ist?“, fragte sie ihn. Markus drehte sich zu ihr um: „Ist die nicht im Wohnzimmerschrank, so wie immer?“ – „Eben nicht.“
Er zuckte mit den Schultern: „Dann weiß ich es leider auch nicht.“ – „Und du hast sie auch sicher nicht gegessen? Robin war’s bestimmt nicht, der mag keine Nussschokolade“, antwortete Sabrina.
Markus stutze: „Mein Schatz, warum sollte ich deine Schokolade aufessen? Da liegt doch noch anderes Zeug im Schrank, das ich um einiges lieber essen würde.“
„Ach, ich weiß doch auch nicht. Es war so stressig heute auf der Arbeit, da wollte ich mir jetzt einen schönen gemütlichen Abend mit einem guten Buch und der Schokolade machen. Hatte wohl vergessen mir eine neue Tafel zu kaufen“, sagte Sabrina enttäuscht. Markus ging zu ihr, strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht, gab ihr einen Kuss auf die Stirn und sagte: „Dann schlag ich vor, du nimmst dir als Ersatz einfach was anderes aus dem Schrank und morgen nach der Arbeit fahre ich eben beim Supermarkt vorbei und kauf dir eine neue Tafel, okay?“ Sabrina schaute zu ihm hoch, lächelte: „Du bist ein Schatz, danke.“

Ihrem Sohn fiel das Unheil am nächsten Morgen als erstes auf. Sabrina hatte das Haus mit ihm verlassen und die beiden liefen zum Auto, welches auf dem Parkstreifen vor ihrem Haus stand.
„Mama, was ist mit deinen Reifen passiert?“, fragte Robin und deutete auf ihr Auto. „Das darf doch wohl nicht wahr sein!“, rief sie und rannte die letzten Meter, bis sie vor ihrem Wagen stand. Sie kniete sich neben ihren linken Vorderreifen und fuhr mit den Fingern den Schlitz nach, der sich zehn Zentimeter lang knapp über den Felgen befand. Nachdem sie prüfend einmal um ihr Auto herumgegangen war, erkannte sie, dass alle vier Reifen beschädigt und platt waren.
„So eine verdammte Scheiße“, murmelte sie und dann an ihren Sohn gewandt: „Du musst heute wohl leider mit dem Bus zur Schule fahren. Wenn du dich beeilst, schaffst du es noch rechtzeitig zur Haltestelle.“ Daraufhin gab sie ihrem Sohn einen Abschiedskuss und sah ihm hinterher, wie er sich schnellen Schrittes auf den Weg zur Bushaltestelle machte.
Nachdem sie beim Abschleppdienst und ihrer Versicherung angerufen hatte, rief Sabrina bei ihrer Arbeit an, um mitzuteilen, dass sie sich erst mal verspäten würde. Natürlich passte ihrem Chef das gar nicht, vor allem bei der hohen Auftragslage und dem Stress, den sie zurzeit sowieso hatten. Sabrina versprach, sich umgehend ein Taxi zu nehmen, sobald ihr Auto abgeschleppt sein würde und hoffte auf ein schnelles Eintreffen des Abschleppdienstes.
Beim Abendessen erzählte sie, dass ihr Chef ihr gedroht hatte sie abzumahnen, wenn so etwas noch mal vorkommen würde und wie schlecht die Stimmung auf der Arbeit war, weil alle so gestresst waren.
„Dein Chef kann ja viel erzählen, wenn der Tag lang ist“, sagte Markus, „aber dich einfach so abmahnen, das geht gar nicht. Außerdem hat sich die Versicherung doch gemeldet, dass sie komplett für den Schaden aufkommen wird, inklusive Abschleppgebühr.“ – „Ich bin trotzdem richtig sauer“, antwortete Sabrina wütend, „wer macht denn sowas, fremden Leuten die Autoreifen aufschlitzen?“
Markus überlegte: „Vielleicht war der Täter gar nicht fremd. Hast du mit irgendjemandem Probleme?“
Sabrina lache kurz auf: „Ja, mit meinem Chef. Aber mal ehrlich, du kennst mich doch. Ich verstehe mich mit allen Leuten gut.“ – „Das stimmt. Vielleicht war es auch einfach nur ein krimineller Jugendlicher. Die Polizei will sich ja melden, wenn sie was herausgefunden hat“, sagte Markus. Dann lächelte er: „Und jetzt Schluss mit Trübsal blasen, ich habe dir deine Lieblingsschokolade mitgebracht!“

Ein paar Wochen waren vergangen. Die Autoreifen waren erneuert worden, der Stress auf der Arbeit hatte sich gelegt und Sabrina war mit ihrer Freundin Laura in einem Café verabredet. Die beiden Frauen hatten sich auf der Arbeit kennengelernt, jedoch war Laura mittlerweile weggezogen und arbeitete in einer anderen Stadt. Die Freundinnen trafen sich dennoch regelmäßig, um in ihrem Lieblingscafé einen großen Cappuccino zu trinken und sich über den neusten Klatsch und Tratsch auszutauschen. Als der Kellner die Rechnung brachte, konnte Sabrina ihr Portemonnaie nicht mehr finden. Nervös fing sie an den Inhalt ihrer Handtasche auf dem kleinen Tisch auszubreiten. „Macht doch nichts“, sagte ihre Freundin, „ich lade dich ein und du suchst es gleich in Ruhe zu Hause.“
Doch auch zu Hause konnte Sabrina ihre Geldbörse nicht wiederfinden. Obwohl ihr Mann und ihr Sohn eifrig bei der Suche halfen, blieb sie verschwunden. Sabrina rief ihre Bank an, um ihre Karten sperren zu lassen. „Bis du deine Ausweisdokumente neu beantragst, würde ich aber besser noch eine oder zwei Wochen warten. Vielleicht hast du ja Glück und ein ehrlicher Finder bringt dir das Portemonnaie zurück“, riet Markus ihr.
Aber leider tauchte die verlorene Geldbörse nicht wieder auf. Zwar verkündete die Bank, dass nicht versucht wurde mit ihrer EC-Karte Geld abzuheben, trotzdem war dies nur ein schwacher Trost, da für Sabrina jetzt die Rennerei zu den Ämtern und Behörden anfing.

Als endlich Wochenende war, freute Sabrina sich auf ein spätes gemütliches Frühstück mit einer großen Tasse Kaffee.
Den teuren Vollautomaten hatte sie sich letztes Jahr zu Weihnachten selbst geschenkt, da sie eine leidenschaftliche Kaffeetrinkerin war. Ihr Mann konnte nicht so viel damit anfangen und vergnügte sich morgens lieber mit einer Tasse Tee.
Doch heute wollte die Maschine einfach nicht anspringen. Deshalb versuchte Sabrina mehrfach sie aus- und wieder einzuschalten. Ohne Erfolg, es tat sich immer noch nichts. Sie seufzte laut: „Ach, hätte ich doch nur einen Elektriker im Haus, der mir helfen könnte, damit meine geliebte Kaffeemaschine wieder anspringt.“ – „Ach, so ein Zufall. Ich bin ja einer!“, lachte Markus und stand vom Frühstückstisch auf. Nach mehrmaligem Drücken der Knöpfe und überprüfen des Stromkabels zog er jedoch die Stirn kraus und sagte: „Die werde ich gleich nach dem Frühstück mal auseinanderbauen müssen. Der Fehler muss irgendwo im Inneren liegen.“
Nachdem Markus die Maschine auseinandergebaut hatte, stellte er schnell fest, dass ein Kabel durchgeschmorrt war. „Ist da noch Garantie drauf?“, fragte er seine Frau. Sie antwortete: „Ja, bestimmt. Ich muss gleich mal die Rechnung suchen. Du kriegst das nicht so auf die Schnelle wieder repariert?“ – „Nein, mir fehlen dazu die passenden Teile. Die kannst du besser am Montag zurück zu dem Laden bringen, wo du sie gekauft hast und dir eine neue geben lassen. Und bis dahin bereite ich dir jeden Morgen höchstpersönlich den leckersten Tee zu, den zu je getrunken hast.“

„Mirko ist schon seit zwei Tagen nicht mehr zu Hause gewesen“, stellte Robin fest und aß das letzte Stück seiner Pizza. Ein paar Tage waren vergangen und die Familie hatte beschlossen mal ausnahmsweise Pizza zu bestellen. „Mach dir keine Sorgen, mein Schatz“, antwortete Sabrina ihrem Sohn, „der Kater war schon öfter ein paar Tage unterwegs.“ – „Aber in letzter Zeit kam er jeden Abend zurück.“
„Wenn du magst, können wir uns ja morgen mal in der Nachbarschaft umhören, ob ihn jemand gesehen hat und ihn suchen“, schaltete sich Markus ein. Robin strahlte: „Ja, das ist eine super Idee, Papa!“
Am nächsten Tag war Sabrina grade dabei ein paar Blätter im Vorgarten zu kehren, als Markus nach Hause kam. „Es gibt leider keine Spur von Mirko. Wir haben die komplette Nachbarschaft abgesucht. Ich bin mir aber sicher, dass er wieder auftaucht“, sagte er zu seiner Frau. Diese lächelte und fragte: „Und wo hast du unseren Sohn gelassen?“ – „Der ist noch mit ein paar Freunden auf dem Spielplatz. Will aber pünktlich zum Abendessen zurück sein.“

Die traurige Botschaft erreichte Sabrina in der nächsten Woche. Ihr Sohn war bei einem Schulkameraden und ihr Mann noch auf der Arbeit, als es an der Haustür klingelte.
Ihre Nachbarin machte ein betrübtes Gesicht, als sie erzählte, dass sie den Kadaver des Katers am Straßenrand hat liegen sehen. „Ihr Mann ist mit dem kleinen Robin erst letzte Woche bei mir gewesen und hatte nach der Katze gefragt. Das tut mir schrecklich leid für Sie.“, bedauerte die alte Dame.
Sabrina bedankte sich bei der Nachbarin für die Info und erklärte, dass sie ihren Mann schicken wird um das tote Tier wegzuschaffen.

In dieser Nacht konnte Sabrina einfach keinen Schlaf finden. Nach stundenlangem Herumwälzen wurde auch ihr Mann wach und fragte was los ist. „Findest du es nicht auch merkwürdig? Zuerst die aufgeschlitzten Autoreifen, dann wird meine Geldbörse geklaut und jetzt auch noch die Sache mit Mirko. Ich habe das Gefühl, alles geht schief“, seufzte sie. Ihr Mann nahm sie in den Arm: „Jeder hat mal eine Pechsträhne, mein Schatz. Das hat sich doch auch alles wieder geklärt. Ich bin mir sicher, dass jetzt wieder alles gut wird.“ – „Trotzdem fühle ich mich innerlich so unruhig. Ich kann schon seit Tagen nicht mehr gut schlafen und wenn dann träume ich irgendeinen Mist“, klagte Sabrina.
„Ich wollte morgen eh in die Apotheke, soll ich dann mal fragen, ob die was dagegen haben? Irgendein leichtes Schlaf- oder Beruhigungsmittel?“, fragte Markus besorgt. – „Ja, das wäre lieb. Dann wollen wir mal hoffen, dass es mir dann besser geht.“

In den darauffolgenden Wochen ging es Sabrina tatsächlich um einiges besser. Die Medikamente, die Markus ihr aus der Apotheke mitgebracht hatte zeigten schnell ihre Wirkung und sie war gelassener denn je. Zudem hatte Markus mit seiner Vermutung Recht gehabt und die Pechsträhne, die Sabrina zu verfolgen geschienen hatte, hatte aufgehört.
Es war Nachmittag an einem Freitag im Herbst. Robin ist nach der Schule direkt mit zu einem Klassenkameraden nach Haus gegangen, um bei ihm zu übernachten. Somit hatten die Eltern den Freitagabend für sich allein.
Die Beiden hatten sich gemeinsam aufs Sofa gesetzt um ein bisschen fern zu sehen, da fragte Markus: „Sag mal Schatz, kannst du mir sagen, welcher Tag heute ist?“ – „Freitag?“ Sabrina war so verwundert über die Frage, dass sie selbst mit einer Gegenfrage antwortete. „… der…?“, fragte Markus weiter nach. Sabrina lachte: „Ach so. Der 22. Oktober, um genau zu sein.“ – „Und ist da irgendwas besonderes?“ – „Nee, nicht das ich wüsste, oder?“
Markus stand auf und ging wortlos zum Wohnzimmerschrank. Dann reichte er ihr ein Uralt-Handy. Er schaut Sabrina an, nicht eine Emotion in seinem Gesicht, als er mit tonloser Stimme sagte: „Das war mein erstes Handy als ich noch ein Kind war. Sind ein paar witzige alte Fotos drauf.“ Sabrina nahm das alte Mobiltelefon zögernd an sich, verwundert über die plötzliche Gefühlslosigkeit ihres Mannes.
Dieser verließ daraufhin das Wohnzimmer und Sabrina hörte, wie er in die Küche ging.
Sie drehte das Telefon zweimal in ihren Händen, bevor sie die obere Taste drückte, um es anzuschalten. Es war keine PIN-Eingabe erforderlich, sodass sie sofort die Galerie öffnen konnte, nachdem sie es geschafft hatte sich mit den kleinen Tasten und dem kleinen Display zurechtzufinden.
Als sie das letzte Foto in der Galerie öffnete, erstarrte Sabrina. Im Gegensatz zu den heutigen Smartphones war das Display winzig und die Qualität ließ auch mehr als zu wünschen übrig, jedoch erkannte sie sofort, was auf dem kleinen Foto abgebildet war. Sie war es selbst. Sie stand auf der Schwelle der Haustür ihres Elternhauses, gerade mal dreizehn Jahre alt, und schaute mehr missmutig als glücklich in die Kamera. Der Grund ihrer schlechten Laune stand wenige Zentimeter neben ihr. Erik. Ihr Stiefbruder von diesem Tag an. Das Foto wurde an dem Tag gemacht, als Erik mit seinem Vater bei ihr eingezogen war. Sabrina konnte sich noch daran erinnern, wie ihre Mutter das Foto gemacht hatte, da sie es sehr wichtig fand Erinnerungen festzuhalten. Und dieser Tag war, zumindest für ihre Mutter, ein großes Ereignis gewesen.
Für Sabrina war dies jedoch keine Erinnerung, an die sie gerne zurückdachte. Sie hatte Erik gehasst. Vom ersten Tag an hat sie ihn gehasst. Er hatte nicht eine Chance bei ihr gehabt. Im Nachhinein konnte Sabrina nicht mal genau festlegen, woher dieser abgrundtiefe Hass kam, sie wusste einfach nur, dass er da war und Erik war halt derjenige, der ihn abbekam.
Sabrinas Erinnerungen waren schwach und verschwommen. Erik, dessen Süßigkeiten sie geklaut hatte. Erik, dessen Fahrradreifen sie zerstochen hatte. Erik, dessen Spardose sie geplündert und dessen Computerspiel sie kaputt gemacht hatte. Erik, dessen Hamster sie Rattengift in seinen Futternapf getan hatte. Und Erik, den sie aus Versehen… – „Und was sagst du?“ – Sabrina schreckte hoch. Markus war mittlerweile aus der Küche zurückgekehrt und stand im Türrahmen. In seiner Hand hielt er ein großes Küchenmesser, den Griff mit einem Geschirrhandtuch umwickelt. Sabrina starrte auf das Messer, dann auf ihren Mann und wieder auf das Handydisplay.
„Ich verstehe nicht…“, fing sie an, dann rutschte ihr das Telefon aus den zittrigen Händen.
Markus legte das Messer auf dem Bücherregal ab und kam einen Schritt auf seine Frau zu. Er grinste hämisch, dann fragte er was, das Sabrinas Blut in den Adern gefrieren ließ: „Na, Schwesterherz. Überrascht?“ Sabrina spürte, wie ihr Herz aussetzte und starrte ihren Mann ungläubig an als sie kaum merklich ihren Kopf schüttelte. „E-Erik?“ – „Ja, ganz richtig. Ich lebe noch. Überraschung“, sagte ihr Mann trocken. Sabrina schüttelte nun erneut den Kopf. „Ich verstehe das nicht“, flüsterte sie.
„Was gibt’s denn daran nicht zu verstehen? Du hast mich damals in den Fluss gestoßen, aber ich bin nicht ertrunken, sondern konnte mich nach ein paar hundert Metern an einem Stein festklammern und rausziehen. Aber zurück zu euch wollte ich sicher nicht, deshalb bin ich abgehauen und habe mir mit den Jahren eine neue Identität zugelegt und mir ein neues Leben aufgebaut. Und heute, exakt 30 Jahre nach meinem Verschwinden, ist endlich der Moment meiner Rache gekommen“, sagte Markus und strahlte. Sabrina fröstelte. „Du willst mich also umbringen?“, fragte sie und ihr Blick wanderte zu dem Messer, welches er auf dem Regal abgelegt hatte. Markus lachte auf: „Aber nein. Was hätte ich denn davon? Du sollst leiden. Ob sie dich in den Knast oder die Klapse stecken, ist mir eigentlich egal. Wobei sie in deinem Blut einige Psychopharmaka nachweisen werden, dir wahrscheinlich besser bekannt als harmlose Beruhigungs- und Schlaftabletten.“
Sabrina wurde hellhörig: „Du warst das alles. Du hast meine Autoreifen zerstochen und du hast mein Portemonnaie geklaut. Das mit der Kaffeemaschine warst du vermutlich auch, oder?“ – „Nicht zu vergessen, dass ich deine Schokolade versteckt hatte, nur um sie dir am nächsten Tag wieder zu geben. Und den kleinen Kater habe ich auch auf meinem Gewissen. Aber das war ja nur Teil eins meiner Rache, Teil zwei folgt jetzt.“ Markus war zum Telefon gegangen, wählte drei Ziffern und ging, das Telefon am Ohr wieder zum Regal, um sich das Messer zu nehmen. „Ja, hallo? Bitte, Sie müssen mir helfen!“, stöhnte er ins Telefon. Er nannte seinen Namen und fuhr fort: „Meine Frau ist wahnsinnig geworden. Sie hat mich angegriffen, ich bin verletzt. Ja, sie ist noch hier. Sie ist gefährlich. Sie müssen sie sich schnappen. Wir haben noch einen kleinen Sohn, der ist auch in Gefahr. Bitte kommen Sie schnell!“ Markus nannte noch seine Adresse, dann legte er auf und ließ das Telefon zu Boden fallen.
Sabrina erhob sich von dem Sofa, aber Markus trat an sie heran, das Messer nach vorne gestreckt. „Bleib sitzen, mein Schatz. Die Polizei wird gleich da sein und dann wirst du eingesperrt und hast genug Zeit für den Rest deines erbärmlichen Lebens darüber nachzudenken, was du deinem armen kleinen Stiefbruder nur angetan hast. Obwohl er doch nichts für irgendetwas konnte und du ihn einfach nur fertig gemacht hast.“ – „Erik, es tut mir leid!“, beteuerte Sabrina und fing an zu weinen. Ihren Mann ließ dies völlig kalt und er sagte: „Und falls du doch irgendwann rauskommen solltest, gib dir keine Mühe mich oder unseren Sohn zu finden. Ich habe schon mal eine neue Identität angenommen. Das schaffe ich jeder Zeit wieder.“
Einen Moment lang schwiegen sie beide. „Du willst mir meinen Sohn wegnehmen?“, fragte Sabrina schließlich leise. Markus lachte: „Das wird das Jugendamt für mich übernehmen. Die können Robin doch nicht bei seiner Mutter lassen, wenn diese so gewalttätig ist, wie du und dann auch noch so viele Medikamente nimmt. Ich denke auch, dass er unter diesen Umständen bei seinem Vater besser aufgehoben wäre.“ In dem Moment hörte man bereits die Sirenen der Polizei und Rettungskräfte, die immer lauter wurden.
Dann stach Markus sich das Messer in den Bauch, wohl wissend, dass er hier keine Organe lebensbedrohlich verletzen würde. Er sackte schwer atmend zu Boden. Das Messer warf er bei Seite, das Geschirrhandtuch behielt er jedoch in der Hand, um dieses auf die Wunde zu pressen. Sabrina sah der Szene entsetzt zu. Nach einem kurzen Moment der Schockstarre stand sie auf, ihre Beine zitterten.
Sie fragte sich, ob sie noch versuchen sollte zu flüchten. So wie ihr Mann alles eingefädelt hatte, würde man ihr wohl kaum glauben. Ihre Gedanken wurden jedoch unterbrochen, denn von draußen polterte des heftig gegen die Haustür und mit einem lauten Knall wurde diese schließlich eingetreten. Sabrina konnte nicht mehr entkommen. Bevor die Polizisten das Wohnzimmer erreicht hatten, grinste Erik Sabrina ein letztes Mal an: „Na dann, leb wohl, Schwesterherz!“

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